Vor dreißig Jahren wurde die Regierung der Unidad Popular (UP)
in einem Staatsstreich abgesetzt. Ein Blick auf ihre Reformpolitik erscheint
von mehr als historischem Interesse, steht die UP doch für den
seltenen Versuch, Wirtschaft und Gesellschaft sozialistisch umzugestalten
und dabei mit demokratischen Mitteln und unter Respektierung der politischen
Opposition vorzugehen. Aufstieg und Fall der UP verdanken sich einer
Reihe von Faktoren, von denen die »hausgemachten Probleme«
im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags stehen sollen. Wichtige externe
Faktoren, die ebenfalls zum Sturz der Regierung Allende beigetragen
haben, wie die Politik der USA und Kubas, bleiben dagegen weitgehend
unerörtert.1 Ich skizziere zunächst die politischen und ökonomischen
Hintergründe der Wahl Allendes, diskutiere zweitens die Reformen
der UP und beleuchte drittens die Krise der chilenischen Demokratie
1973.
Chile vor 1970
Bis in die 70er Jahre hinein beruhte das Akkumulationsregime des chilenischen
Kapitalismus auf der Entwicklungsstrategie der industriellen Importsubstitution.
Dabei sicherte der Staat die Industrialisierung durch ein Bündel
von Maßnahmen, zu denen hohe Zollmauern als Schutz für den
Binnenmarkt, preiswerte Kredite und Steuerbefreiungen für einheimische
Investoren ebenso gehörten wie direkte Investitionen. In Chile
unterscheidet man zwei Phasen der industriellen Importsubstitution:
In einer ersten Etappe (sustitución fácil, 1940 bis 1954)
wurde die interne Nachfrage nach Industrieprodukten ins Zentrum der
wirtschafts- und sozialpolitischen Entwicklung gerückt. Die Konsumgüter
produzierende Industrie wuchs rasch, vor allem die Textil- und Schuhindustrie.
Der Anteil der Industrie am Bruttosozialprodukt (BSP) erhöhte sich
in den 40er und frühen 50er Jahren von 13,6 auf 24,9 Prozent und
die industrielle Beschäftigung wuchs um 70 Prozent. Aber während
das industrielle Wachstum durchschnittlich 7,9 Prozent jährlich
betrug, stagnierten andere Sektoren (Landwirtschaft: 1,7 Prozent, Bergbau:
-0,5 Prozent), so daß das durchschnittliche Wachstum bei lediglich
3,3 Prozent jährlich lag. Diese sektorale Ungleichheit wurde so
lange kompensiert wie die Deviseneinnahmen stabil blieben. Dies war
aufgrund der hohen Nachfrage nach Kupfer während des Zweiten Weltkriegs
und des Koreakriegs gegeben. Nach dem Koreakrieg gab der Kupferpreis
nach, die Handelssituation Chiles verschlechterte sich und das eingeschlagene
Entwicklungsmodell wurde in Frage gestellt.
Die Phase der »einfachen Importsubstitution« ging 1954
zu Ende. Das BSP war um 3,5 Prozent geschrumpft und das Wachstum des
industriellen Sektors verlangsamte sich zwischen 1955 und 1960 auf 2,8
Prozent. Es begann nunmehr die Ära der »komplizierten Importsubstitution
« (sustitución difícil), während derer mit
verschiedenen politisch-ökonomischen Strategien versucht wurde,
die Probleme in den Griff zu bekommen. Die drei in diesem Zusammenhang
zu unterscheidenden wirtschafts- und entwicklungspolitischen Kurse sind
verbunden mit der Amtszeit der Präsidenten Ibañez (1952-58),
Alessandri (1958-64) und Frei (1964-70). Als unabhängiger Kandidat
wurde Carlos Ibáñez 1952 mit einem populistischen und
pragmatischen Programm zum Präsidenten gewählt. Er gab vor,
über dem Parteienstreit zu stehen und orientierte sich an faschistischen
und populistischen Führern Europas. Er suchte die vorgeblich »unpolitischen
Massen« zu verbinden, indem er beispielsweise Entfremdungstendenzen
zwischen politischer Klasse und einfacher Bevölkerung aufgriff.
Im Unterschied zu anderen populistischen Bewegungen vermochte die Regierung
Ibañez sich jedoch nicht als eigenständige politische Kraft
zu konsolidieren. Unter dem Druck einer sich ständig zuspitzenden
Inflation und steigender Lebenshaltungskosten brachte die Regierung
genau die Bevölkerungsgruppen gegen sich auf, die sie mehrheitlich
gewählt hatten. Die Heterogenität ihrer sozialen Basis wurde
zunehmend problematisch; am Ende sah sich Ibañez gezwungen, auf
die Unterstützung aus dem ursprünglich angeprangerten etablierten
Parteienspektrum zurückzugreifen. Er ging eine Koalition mit der
politischen Rechten ein.
Bei der Präsidentschaftswahl von 1958 setzte sich der konservative
Kandidat Jorge Alessandri knapp gegen Salvador Allende von der 1956
von Kommunisten und Sozialisten gegründeten Frente de Acción
Popular durch. Eduardo Frei, der die zum ersten Mal unabhängig
antretenden Christdemokraten vertrat, erreichte den dritten Platz.2
Auch Alessandri nahm sich vor, die wirtschaftlichen und sozialen Probleme
des Landes zu lösen. Um Stagnation und Inflation zu überwinden,
reorganisierte er die Staatsverwaltung, führte ein neues Steuersystem
ein und setzte auf private Initiative. Größeren sozialen
und wirtschaftlichen Reformen widersetzte er sich. Erst als die konservativ-liberalen
Kräfte Anfang der 60er Jahre ihre Mehrheit im Kongreß verloren,
kam es zum Beispiel im Agrarbereich zu ersten Veränderungen. Enteignungen
erfolgten jedoch nur in Ausnahmefällen, die Privilegien der Großgrundbesitzer
blieben weitgehend unangetastet. Auf das Ausbleiben einer wirklichen
Umverteilung von Grund und Boden reagierte die Landbevölkerung
mit gewerkschaftlicher Organisierung und Stimmabgabe für die politische
Linke. Die Polarisierung und Radikalisierung der Wählerschaft nahm
zu, so daß Anfang der 60er Jahre ein Wahlsieg der Linken nicht
mehr ausgeschlossen schien. Angesichts dessen verzichtete die Rechte
bei den Präsidentschaftswahlen 1964 auf einen eigenen Kandidaten
und unterstützte den Christdemokraten Frei als das »kleinere
Übel«. Die Christdemokraten, welche die Wahlen auf der Grundlage
dieses Schulterschlusses deutlich gewannen, traten mit einem wirtschaftlichen
Reformplan an, welcher Agrarreformen, die partielle Nationalisierung
des Kupfers, Monopol- und Inflationskontrolle, Exportstimulierung, Steuerreformen
sowie Maßnahmen zur Lohn- und Preisstabilisierung umfaßte.
In politischer Hinsicht drängte man auf eine Verfassungsreform
und auf eine Demokratisierung des Bildungswesens. Man nahm sich weiterhin
zum Ziel, das öffentliche Gesundheitssystem zu reformieren und
gewerkschaftliche Positionen innerhalb der industriellen Beziehungen
aufzuwerten. Während die politischen Ziele von Freis Revolución
en Libertad als weitgehend in die Tat umgesetzt gelten, ließen
sich die wirtschaftlichen Inhalte weitaus schwieriger verwirklichen.
Dies lag unter anderem am Widerstand der Opposition, der die geplanten
Maßnahmen entweder zu weit (Rechte) oder nicht weit genug (Linke)
gingen. Ein unbeabsichtigter Nebeneffekt der eingeleiteten Sozialreformen
war eine Verhärtung der Parteienfronten und eine Eskalation der
politischen Dynamik, welche sich in immer radikalerer Form Luft zu machen
begann.
Die Regierung Frei war sich der Tatsache bewußt, daß weitreichende
strukturelle Reformen mit kurzfristigen ökonomischen Ungleichgewichten
einhergehen können. So räumte man etwa im Falle einer zu rasanten
inflationären Entwicklung der makroökonomischen Stabilität
Priorität vor der weiteren Durchsetzung von Reformen ein. Obwohl
diese Prioritätensetzung das Reformtempo verlangsamte, waren am
Ende der Regierungszeit Freis Bodenreformen begonnen und Teile der Campesinos
am Grundbesitz beteiligt worden. Ein Teil der Eigentumsrechte an den
großen Kupferminen war in Nationaleigentum übergegangen.3
Begünstigt durch einen relativ hohen Kupferpreis, führten
diese Nationalisierungen zu einem Anstieg der Staatseinnahmen. Die öffentlichen
Ausgaben konnten ausgedehnt und zur Subventionierung kleinerer und mittlerer
Einkommensgruppen verwendet werden. Die Löhne wurden per Gesetz
an die Inflationsrate gekoppelt. Insgesamt lag das wirtschaftliche Wachstum
zwischen 1965 und 1970 bei 3,9 Prozent und die Inflationsrate bei 26
Prozent, wobei die Werte für den Zeitraum 1968-70 weitaus schlechter
ausfielen als für die erste Hälfte der Legislaturperiode.
Die Ergebnisse der Reformregierung Frei sind zwiespältig. Einerseits
verweisen Beobachter auf die gelungenen ersten drei Jahre, in denen
das Wachstum gesteigert und die Inflation gesenkt worden waren. Andererseits
gab es ein Gefühl frustrierter Erwartungen in weiten Teilen der
Bevölkerung hinsichtlich der Reichweite der Reformen.4 Für
die Linke schien nur eine konsequent sozialistische Transformationsperspektive
den Ausweg aus der Stagnation der letzten Frei-Jahre zu weisen. Diese
Position machten sich gegen Ende der 60er Jahre nicht nur die traditionelle
Linke, sondern auch Teile der Christdemokraten und der Radikalen Partei
zu eigen. Es kam zur Abspaltung der MAPU (Movimiento de Acción
Popular Unitaria) von den Christdemokraten und zur Vereinigung dieser
Gruppe mit der Linken. Ende 1969 wurde das Wahlbündnis der Unidad
Popular gegründet, in das trotz mitunter heftiger interner Konflikte
Kommunisten, Sozialisten, Radikale, MAPU und diverse kleinere Gruppierungen
eintraten. Auf der Basis dieser relativ breiten Koalition wurde Salvador
Allende 1970 – in seinem vierten Anlauf seit 1952 – zum
Präsidenten Chiles gewählt.5
Die Reformpolitik der Unidad Popular
Für die neue Regierung wies die chilenische Wirtschafts- und Sozialstruktur
schwerwiegende Anomalien auf (Alaluf 1971).6 Zunächst war die Wirtschaft
hochgradig konzentriert. 17 Prozent der Firmen verfügten über
etwa 78 Prozent aller Aktiva. In der Industrie konzentrierten sich bei
3 Prozent der Firmen etwa 60 Prozent des Kapitals. In der Landwirtschaft
besaßen 2 Prozent der Landbesitzer 55 Prozent der landwirtschaftlichen
Nutzfläche. Im Bergbau kontrollierten drei US-amerikanische Firmen
die Kupferproduktion. Im Kreditwesen hielten drei Privatbanken die Kontrolle
über etwa 50 Prozent der Einlagen und Kredite. Ein weiterer struktureller
Nachteil der chilenischen Wirtschaft war ihre externe Abhängigkeit,
vor allem vom Kupferpreis. Wirtschaftsminister Pedro Vuskovic (1970)
kritisierte den Einfluß des ausländischen Kapitals auf die
chilenische Wirtschaft, welcher darin zum Ausdruck kam, daß von
den 100 größten Firmen 61 ausländische Beteiligungen
aufwiesen. Schließlich wurde die Einkommensverteilung als ungerecht
empfunden, da auf das ärmste Zehntel der Bevölkerung lediglich
1,5 Prozent des Gesamteinkommens entfielen, während das reichste
Dezil über 40 Prozent verfügte.
Die UP zielte auf die Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise.
Kernstück dieser Politik war die Verstaatlichung bzw. Vergesellschaftung
der wichtigsten Ressourcen Chiles. Bodenschätze wie Kupfer, Kohle,
Salpeter, Eisen und Stahl sollten nationalisiert, größere
industrielle Unternehmen kontrolliert, das Bankenwesen verstaatlicht
und die Agrarreform intensiviert werden. Der gesellschaftliche Reichtum
sollte nicht mehr einer zahlenmäßig kleinen, aber einflußreichen
Minderheit zugute kommen, sondern den unmittelbaren Produzenten selbst.
Im Gegensatz zur Regierung Frei hielt man es für möglich,
die mit diesem Ziel verbundenen umfassenden strukturellen Eingriffe
ohne größere ökonomische Störungen und sogar mit
kurzfristigen Erfolgen in die Tat umzusetzen (García 1971). So
wurde die Inflation keineswegs als sekundäres Problem angesehen,
hatte man doch allen vorherigen Regierungen vorgehalten, sie nicht wirksam
bekämpft zu haben. Die UP war der Auffassung, es handele sich dabei
um ein ausschließlich strukturelles Phänomen. Staatliche
Kontrolle über Preise und produktiven Apparat, verbunden mit einer
deutlichen Anhebung der Löhne, sollten von alleine dazu führen,
daß die Löhne schneller wachsen als die Preise und damit
eine Eindämmung der Inflation bewirken.
Betrachtet man die strukturellen Reformen im einzelnen, so herrschte
über die chilenización des Kupfers ein weitgehender gesellschaftlicher
Konsens.7 Bereits 1967 hatte das staatliche Kupferkonsortium CODELCO
(Corporación del Cobre) 51 Prozent der Mine El Teniente von der
US-Firma Kennecott gekauft. Weiterhin waren jeweils 25 Prozent der Minen
Andina und Exótica erworben worden. Der Preis war bereits gegen
Ende der 60er Jahre quasi explodiert, und der Druck auf die Regierung
Frei zur Übernahme weiterer Kupferminen hatte entsprechend zugenommen.
Die UP kam mit dem festen Willen an die Macht, die Nationalisierung
des Kupfers so schnell wie möglich abzuschließen. Man tat
dies mit Hilfe einer konstitutionellen Reform, die im Juli 1971 vom
Kongreß gebilligt wurde. Damit wurden alle großen Minen
– Chuquicamata, El Teniente, Exótica – zum Eigentum
des chilenischen Staates. Zudem übernahm die Regierung die Kontrolle
der großen Minen im Bereich der Kohle-, Eisen- und Salpeterindustrie.
Bereits Ende 1971 war das Wahlprogramm der UP in bezug auf die Gran
Minería erfüllt.
Bei der Beschleunigung und Vertiefung der Agrarreformen konnte sich
die UP auf die bereits aus der Zeit der Administrationen Alessandri
und Frei bestehende Gesetzeslage berufen. Mitte 1972 waren praktisch
alle in Privateigentum befindlichen haciendas über 80 Hektar enteignet.
Dies entsprach rund 10 Millionen Hektar oder 60 Prozent der landwirtschaftlich
nutzbaren Fläche Chiles.8 Allerdings wuchs nicht nur die Zahl der
legal enteigneten Grundstücke beständig, sondern es kam zu
illegalen Hofbesetzungen durch die Bauern – die tomas. Allein
1971 wurden 500 Höfe illegal besetzt. Dies brachte die Regierung
in einen Konflikt zwischen der immer wieder bekundeten Treue zu Recht
und Gesetz und der Solidarität mit der Bewegung der campesinos.
Jacques Chonchol, Landwirtschaftsminister der UP 1970 bis 1972, erwähnte
in diesem Zusammenhang in einem Interview, daß es für die
sozialistische Regierung »außerhalb aller Diskussion«
gewesen sei, die Polizei zur Verteidigung der privaten Höfe gegen
die Bauern und damit die eigene Basis aufmarschieren zu lassen.
Das rasante Enteignungstempo erforderte eine deutliche Erhöhung
des entsprechenden staatlichen Personals. Allein die Corporación
de la Reforma Agraria (CORA), die wichtigste Regierungsorganisation
im Agrarsektor, baute ihr Personal um 70 Prozent aus (Larrain/ Meller
1990, S. 164). Während die vorhergehende Regierung das Prinzip
des asentamiento verfolgt hatte, nach dem jeder expropriierte Hof direkt
an eine Kooperative von Bauern vergeben wurde, führte die Regierung
Allende die Centros de Reforma Agraria ein, welche geographisch benachbarte
Grundstücke zunächst als staatliche Besitzformen zusammenfaßte.
Erst danach sollte das Land an die Bauern weitergegeben werden. Dieser
Zwischenschritt verzögerte die Vergabe der landwirtschaftlichen
Nutzflächen an die Bauern beträchtlich – mit dem Ergebnis,
daß gegen Ende der Regierungszeit der UP zwar der Großgrundbesitz
als vorherrschende landwirtschaftliche Besitzform zerschlagen, die Mehrzahl
der enteigneten Ländereien jedoch in staatlicher Hand verblieben
war.
Im Bankensektor wäre jeder Versuch, auf konstitutionellem Wege
zu Verstaatlichungen zu kommen, am Widerstand der oppositionellen Mehrheit
im Kongreß gescheitert. Deshalb entschloß sich die Regierung
zum massenhaften Ankauf von Aktienpaketen zu nicht unattraktiven Preisen.
Angesichts der unsicheren politischen Situation entschieden sich viele
Aktionäre für den Verkauf, so daß Finanzminister Américo
Zorrilla bereits im November 1971 den weitgehenden Abschluß der
Nationalisierung des Bankensektors verkünden konnte. Zu diesem
Zeitpunkt kontrollierte der Staat sechzehn größere Banken
und 90 Prozent des Kreditvolumens (Larrain/Meller 1990, S. 165). Im
industriellen Sektor stieß die Verstaatlichungspolitik der UP
auf den größten Widerstand. Weil die aus dem Bankwesen bewährte
Methode des Aufkaufs von Besitztümern hier nicht ohne weiteres
funktionierte, bemühte die Regierung ein zuvor nicht angewandtes
Gesetz von 1932, das die Verstaatlichung von Unternehmen in bestimmten
Situationen erlaubte.9 Dazu fand sich ein weiteres Gesetz aus den 40er
Jahren, welches staatliche Intervention in private Unternehmungen bei
Arbeitskonflikten erlaubte. Nun waren Arbeitskämpfe in dieser Zeit
die Regel und wurden nicht selten von Arbeitern initiiert, die der Regierung
nahe standen. Viele Unternehmer wurden auf diese Weise dazu gebracht,
ihre Unternehmen an den Staat zu verkaufen. Als Konsequenz dieser Politik
kontrollierte der Staat im September 1973 insgesamt 507 Firmen, davon
259 per Intervention, d. h. ohne formellen Eigentumswechsel. Trotz dieser
imposanten Bilanz kam es allerdings – anders als im Bergbau, in
der Landwirtschaft und im Bankenwesen – nicht zu einer vollständigen
staatlichen Kontrolle des industriellen Sektors.10
Der Verstaatlichungs- und Nationalisierungskurs – welcher an der
Macht des Landadels, der ausländischen Konzerne, der Finanzoligarchie
und, mit Abstrichen, der industriellen Bourgeoisie rüttelte –
wurde in unterschiedlichem Maße von der Bevölkerung unterstützt.
Während die Verstaatlichung der Bergwerke auf nahezu ungeteilte
Zustimmung stieß, forderten die Enteignungen in den anderen Sektoren
neben dem offenen Widerstand der Opposition die Skepsis auch wohlmeinender
Bevölkerungsteile heraus. Das lag daran, daß es nur im Falle
der Bergwerke zur Verabschiedung eines neuen Gesetzes im Parlament kam,
während in den anderen Sektoren entweder alte (und mitunter fast
vergessene) Gesetze wiederbelebt wurden, oder – im Falle des Bankensektors
– der Staat ökonomisch aktiviert wurde, um als Großeinkäufer
von Privatbesitz aufzutreten. Larrain/Meller (1990, S. 170) bezeichnen
es zudem als ständigen wirtschaftlichen Unruhefaktor, daß
eigentlich kein Mensch so recht wußte, wer nun enteignet werden
sollte und wer nicht. Das Beispiel der tomas und der mitunter willkürlichen
Interventionen in industrielle Privatbetriebe weist auf die mangelnde
Berechenbarkeit der Regierung hin – und dies trug nicht gerade
zur Verbreiterung ihrer gesellschaftlichen Basis bei.
Die Wirtschaftspolitik der UP erzielte im ersten Jahr geradezu spektakuläre
Resultate. Das Wachstum des BSP lag 1971 bei 8,0 Prozent und damit weit
über den 3,6 Prozent des vorhergehenden Jahres. Spitzenwerte wiesen
dabei der Industrie- und der Handelssektor auf, deren Wachstumsraten
13,6 bzw. 15,8 Prozent erreichten (alle Zahlen nach Larrain/Meller 1990).
Die Inflation ging in diesem Zeitraum von 36,1 Prozent auf 22,1 Prozent
zurück, und auch die Arbeitslosigkeit reduzierte sich deutlich
von 8,3 auf 3,8 Prozent. Schließlich erhöhten sich die Reallöhne
um 22,3 Prozent, wobei die niedrigen Einkommensgruppen überdurchschnittlich
von den Lohnerhöhungen profitierten. Um diesen Boom zu ermöglichen,
wurde eine expansive Geldpolitik des Staates in Kauf genommen. Der Ankauf
von Firmen, die Lohnerhöhungen, die Aufblähung des öffentlichen
Haushaltes etc., all dies konnte nur um den Preis einer Erhöhung
des Haushaltsdefizits von 3,5 auf 9,8 Prozent des BIP (1970-71), einer
exorbitanten öffentlichen Neuverschuldung und des Aufbrauchens
internationaler Reserven finanziert werden. Die finanzielle Misere des
Staates wurde zudem durch eine negative Handelsbilanz verschlimmert,
die sich dem Preisverfall des Kupfers auf dem Weltmarkt auf rund ein
Drittel des Wertes von 1970 verdankte. Aus einem Haushaltsüberschuß
von 95 Millionen US-Dollar 1970 wurde binnen eines Jahres ein Minus
von 90 Millionen US-Dollar. Bereits gegen Ende 1971 verdichteten sich
die Anzeichen einer galoppierenden Inflation. Die Geldmenge nahm rasch
zu, das Finanzdefizit vergrößerte sich, die Löhne wurden
weiterhin erhöht und die Devisenreserven nahmen ab. Schließlich
entstand ein schwarzer Markt für immer mehr Waren.
Obwohl also die wirtschaftliche Krise gegen Ende 1971/Anfang 1972 absehbar
war, sah sich die Regierung der UP nicht zu einer Kurskorrektur –
vor allem zu einer Eindämmung der Staatsausgaben – veranlaßt.
Im Gegenteil, die Verstaatlichungskäufe wurden fortgesetzt und
die Löhne weiterhin angehoben (besonders im öffentlichen Sektor).
Die Geldpolitik blieb derart expansiv, daß sich die Geldmenge
zwischen 1970 und 1973 verdreißigfachte. Die Inflation erreichte
1972 (260 Prozent) und 1973 (605 Prozent) historische Höchstwerte.
Der Abstand zwischen den offiziellen, von der Regierung festgelegten
und den auf den schwarzen Märkten erhobenen Preisen wurde immer
größer. Angesichts der enormen Geldentwertung mußten
schließlich die Reallöhne fallen, und zwar um 11,3 Prozent
1972 bzw. 38,6 Prozent 1973.11 Die Regierung führte die ökonomische
Krise und das Erblühen der schwarzen Märkte auf die konterrevolutionäre
Praxis der Opposition zurück. In der Tat gab es gezielte Hamster-,
Streik- und Boykottstrategien seitens der Unternehmer und der politischen
Rechten, die mit rationalem betriebswirtschaftlichem Kalkül wenig
zu tun und vielmehr die Destabilisierung der Regierung zum Ziel hatten.
Daß etwa die Versorgungslage nicht so dramatisch war, wie von
der damaligen Opposition behauptet, offenbarte sich am Morgen des 12.
September 1973, als sich die Geschäfte wieder mit Waren füllten.
Die ökonomische »Krise« war insofern Ausdruck der politischen
Krise.
Die Krise der Demokratie
Garretón (1993) hat die politischen Parteien – das Regierungslager,
die Christdemokraten und die Rechte – während der Regierungszeit
der UP im Hinblick auf ihr Verhältnis zur Demokratie untersucht.
Hinsichtlich der UP betont er, daß die Maßnahmen, die zur
Durchsetzung der Transformation zum Sozialismus verfolgt wurden, in
der Regel formell legal waren. Sie brachen jedoch mitunter – etwa
im Falle der Intervention in Privatfirmen – auf der Grundlage
uralter Gesetze und der rechtsstaatlichen Tolerierung der tomas, mit
einem an Konsens und gegenseitigem Respekt orientierten Demokratiebegriff.
Beim Beschluß einschneidender struktureller Eingriffe wurden demokratische
Institutionen umgangen, weil es keine parlamentarische Mehrheit dafür
gegeben hätte. Dies erscheint im nachhinein um so schwerwiegender,
als ein Einvernehmen mit den Christdemokraten vom Wahlprogramm her durchaus
möglich gewesen wäre. Es wurde jedoch nicht intensiv genug
angestrebt. Dieser Vorwurf trifft nicht so sehr Präsident Allende,
der um einen Dialog mit den Christdemokraten und der Kirche bemüht
war, als vielmehr die Sozialistische Partei, die sich als »radikaler«
als die kommunistische erwies. Bei allen internen Meinungsverschiedenheiten
verfolgte die UP letzten Endes einen Kurs, der schnelle Fortschritte
beim Verstaatlichungsprogramm über die Verbreiterung ihrer gesellschaftlichen
Basis stellte. Durch den mitunter bloß taktischen Umgang mit demokratischen
Institutionen trug die UP selbst zur Delegitimierung des demokratischen
Systems und letztlich zu ihrer eigenen Absetzung bei.
Die Rechte hatte mit diversen versteckten und offenen Obstruktions-
und Terrormanövern versucht, die Präsidentschaft Allendes
zu verhindern. Mit dem tödlichen Attentat auf den Oberkommandierenden
der Armee, General Schneider, das man versuchte der UP anzulasten, sei
nur der spektakulärste Fall genannt. Nach Amtsantritt der Regierung
Allende widmete man sich ihrer Bekämpfung mit buchstäblich
allen Mitteln. Im Verbund mit US-amerikanischen Geheimdienstexperten
entworfen, reichten die Destabilisierungsstrategien von konstitutioneller
Opposition über Boykottaktionen am Rande der Legalität bis
hin zu schlichter Kriminalität bei diversen Attentaten vor allem
im Jahre 1973. Schließlich tragen auch die Christdemokraten ihren
Teil an der Verantwortung für die Erosion des demokratischen Systems.
Zu lange verfolgten sie eine Strategie der Neutralisierung des linken
und rechten Spektrums, und dies aus rein wahltaktischem Kalkül.
In der Hoffnung, bei den nächsten Wahlen vom Scheitern der UP zu
profitieren, trug man von sich aus wenig zu einer möglichen Annäherung
an die Regierung bei. Und als sich das politische Klima verschärfte,
waren die Christdemokraten unfähig, einen eigenen konstruktiven
Vorschlag zur Lösung der Krise zu unterbreiten – und arrangierten
sich mit den Putschisten.
Garretón kommt zu dem Schluß12, daß es 1973 keinen
relevanten politischen Akteur gab, der nachhaltig für die Demokratie
eingetreten wäre und dafür Zugeständnisse bei der Verfolgung
des eigenen Programms gemacht hätte.
In der Krise der Demokratie von 1973, während der die kollektiven
Akteure ohne Willen zum Konsens und ohne Rücksicht auf das demokratische
System ihren jeweiligen Projekten verhaftet blieben, mußte derjenige
gesellschaftliche Block obsiegen, der mächtig genug war, den anderen
Akteuren seinen Stempel aufzudrücken.13 Das Militär, das sich
nach der Ernennung Pinochets zum obersten Befehlshaber der Streitkräfte
mit der Rechten verbündet hatte und dabei von den Christdemokraten
toleriert wurde, erwies sich als diejenige gesellschaftliche Institution,
die in dieser Krise ein hinreichend großes Gewaltpotential mobilisieren
konnte, um die Situation in ihrem Sinne zu entscheiden. Der Putsch vom
11. September 1973 14 war zugleich der Endpunkt einer langen demokratischen
Tradition und der Ausgangspunkt einer Militärdiktatur, die 17 Jahre
andauern sollte.
Schlußbemerkung
Die UP strebte einen Sozialismus unter demokratischen Vorzeichen an.
Die Rahmenbedingungen für dieses Projekt waren schwierig. Nicht
nur ließen die USA keinen Zweifel daran, daß sie »ein
zweites Kuba« in ihrem Hinterhof nicht dulden würden. Auch
der sowjetische Block, der gerade erst den Prager »Sozialismus
mit menschlichem Antlitz« niedergeschlagen hatte, sah Chiles »dritten
Weg« und vor allem die formelle Respektierung von Pluralismus
und Gewaltenteilung mit Argusaugen. Neben diesen hier nicht weiter verfolgten
externen Problemen und Bedrohungen hat die UP selbst dazu beigetragen,
ein gesellschaftliches Klima herzustellen, das dem Putsch den Boden
bereitete. Auf dem Feld der Wirtschaftspolitik unterschätzte sie
die kurzfristigen Ungleichgewichte, die mit den langfristig angelegten
ökonomischen Strukturreformen einhergehen mußten. Um möglichst
schnell mit dem Reformplan voranzukommen, wurden Inflation und schwarze
Märkte weitgehend ignoriert bzw. beschönigt, indem beide Phänomene
lediglich auf das Wirken der Opposition zurückgeführt wurden.
War die Wirtschaftspolitik wenig dazu angetan, die ehedem knappe gesellschaftliche
Mehrheit der UP zu vergrößern, so war der mitunter bloß
taktische Umgang mit der Demokratie noch schwerwiegender. Wie Garretón
gezeigt hat, gab es für einen guten Teil der von der UP verfolgten
Reformen keine politische Mehrheit. Statt durch Zugeständnisse
an die Christdemokraten den Versuch zu unternehmen, die eigene gesellschaftliche
Basis zu vergrößern, umging man in grundlegenden Fragen demokratische
Beschlußverfahren und bediente sich zum Teil dubioser und bloß
formell legaler Methoden. Auf diese Weise verprellte man nicht nur potentielle
Bündnispartner, sondern beschleunigte den Erosionsprozeß
der Demokratie als solchen. Die Achillesferse der UP war nicht, wie
die ultralinke Kritik der 70er Jahre lautete, ihre Großzügigkeit
und Toleranz gegenüber der Opposition. Im entscheidenden Moment
mangelte es ihr vielmehr, darin war sie ihren Gegnern nicht unähnlich,
an Dialogbereitschaft und demokratischem Bewußtsein. Aus diesen
chilenischen Erfahrungen läßt sich im Hinblick auf die Debatte
um einen modernen demokratischen Sozialismus folgern, daß Reformregierungen
selbstreflexiver als die UP sein und zum Beispiel in der Lage sein sollten,
das Reformtempo zu verlangsamen, um kurzfristige ökonomische Engpässe
zu vermeiden bzw. zu begrenzen. Auch in einer »Transformationsperiode«
gilt es – mit Marx –, zumindest die »einfache Reproduktion«
des gesellschaftlichen Produktions- und Akkumulationsprozesses sicher
zu stellen.