Der Putsch 1973

 

Der Putsch
Die entscheidenden Tage in Santiago
Montag, 10. September
Allende beordert am 10. alle Minister zu einem außerordentlichen Treffen. Aufgrund der nicht mehr handhabbaren Krise will er zu einem Plebiszit aufrufen und teilt dies den Militärs mit. Auf deren Bitten verschiebt er die öffentliche Bekanntmachung auf den 12. In der Nacht wird er über Truppenbewegungen informiert, die von den hohen Militärs abgestritten werden. Die letzten Treffen mit Vorsitzenden, Beratern und Freunden finden in der Nacht vom 10. auf den 11. in seinem Haus in Tomás Moro statt.

Dienstag, 11. September
7.40 Uhr: Allende begibt sich in den Präsidentenpalast. Zur Mittagszeit beginnt die Bombardierung der Moneda. Allende lehnt wiederholt das Angebot ab, ins Exil zu gehen; gemeinsam mit seiner Wache und anderen Mitstreitern kämpft er. Der Widerstand der Arbeiter ist schwach und unorganisiert. Als die ersten Truppen La Moneda stürmen, ergibt er sich nicht. Salvador Allende kommt bei der Verteidigung der Moneda ums Leben.

8 Uhr: Schußwechsel im Verteidigungsministerium. Zerstörung und Massaker im Cordon Vikuna Makenna (Industrieviertel im Süden von Santiago). Massaker in der Technischen Universität. Überfall des Militärs auf die kubanische Botschaft. Das Militär erlaubt die Plünderung durch Zivilisten des anliegenden Wohngebäudes der kubanischen Diplomaten. In Valparaiso Beschießung eines kubanischen Schiffes durch Hubschrauber und Zerstörer. Erschießung eines Leiters der Dirinco (staatliche Industrie und Hanidelsrat).

Mittwoch, 12. September
Etwa 13.30 Uhr. Ultimatum der Militärjunta an die Widerstand leistenden Arbeiter, sich bis spätestens 15 Uhr zu ergeben. Bereits 14.40 Uhr beginnt Flugzeugangriff auf den Cordon Cerillos (Industrieviertel im Südwesten von Santiago). Die Junta beschließt und erklärt über Radio, daß ab 15 Uhr keine Gefangenen mehr gemacht werden und daß der Besitz von, Schußwaffen jeder Art durch sofortige Erschießung am Tatort verfolgt wird.

Zweimalige Erwähnung von Indonesien und Djakarta in den Nachrichten des offiziellen Fernsehprogramms.

Zwei Fußballstadien als Gefangenendurchgangslager eingerichtet und Beginn der Deportierung von Gefangenen - gemäß Veröffentlichungen des offiziellen Presseorgans Mercurio vom 15. September - auf die Insel von Juan Fernandez, wo Konzentrationslager errichtet werden sollen.

Erschießung von Führungsspitzen der UP, z. B. Carmen Lazo, Eduardo Paredes, Mario Palestro (Sozialisten); Gladys Marin, Mirella Baltra, Enrique Paris (Kommunisten). Tod der Pressereferenten des Präsidenten Augusto Olivarez und Carlos Jorqueda. In Südchile blutige Vergeltungskampagne gegen Landarbeiter.

Donnerstag, 13. September
Weiterhin Verhaftungen und Erschießungen von Arbeitern. Beschießung mit schwerem Geschütz und durch Bordwaffen von Hawker Hunters der poblaciones (Randsiedlungen) Pefialolen, Ho-Tschi-Minh, Violeta Parra und Colon Oriente. Leichen werden mit LKW abtransportiert.

Beginn massenhafter Hausdurchsuchungen nach Waffen und Extremisten, verbunden mit Zerstörungen und Plünderungen durch die Truppe. Bei Entdecken von Waffen sofortige Erschießung am Tatort. Aufruf zu Blutspenden; Ärzte der Zentralambulanz entmutigen Blutspender, weil vornehmlich Tote eingeliefert werden (Soldaten kommen in die Militärhospitäler). Kardinal Silva Henriquez wurde am Dienstag gehindert, Erklärungen abzugeben. Seine zensierte Erklärung vom Donnerstagabend hebt hervor "das Blutbad auf Straßen, in Fabriken und poblaciones".

Freitag, 14. September
Spaltung der Christdemokratischen Partei. Starke Unruhe innerhalb der Partei wegen der Erklärung des Vorstandes zugunsten der Militärjunta. Parlamentarier wie Fuentealba, Leigton, und andere erkennen Regierung nicht an. Rektor der katholischen Universität lehnt Verantwortung für das Programm des Fernsehkanals der Universität ab: Mißbrauch des Namens der katholischen Universität durch die Militärjunta. Erschießungen in der Militärakademie. Nach Augenzeugen fuhren am Donnerstagabend etwa 15 LKW voller Verhafteter (Studenten?) in die Escuela Militar ein. Freitag früh vernahm man, zwischen 5 und 7 Uhr Kommandostimmen und Salven. Danach fuhren geschlossene LKW heraus. Militär beginnt mit dem systematischen Verbot und der Konfiszierung und Zerstörung marxistischer Literatur (!). Seit Dienstag hält Feuerwechsel in ganz Santiago an, vornehmlich in den Randbezirken. Bis Freitag jede Nacht Feuerwechsel in der Innenstadt. Noch am Sonntag werden von der Feuerwehr Leichen Erschossener aus dem Manocho geborgen. Eine Meldung des offiziösen Mercurio vom 16.9., Seite 11, spricht von "15 Funktionären, verstärkt durch zahlreiche Spezialisten" zur Identifizierung der Leichen. Diese Aufgabe wird vom Leiter der Kripo als die zur Zeit vornehmlichste bezeichnet.

Samstag, 15. September
Der Sänger und Dichter Vicor Jara wird im Nationalstadion gefoltert und ermordet.

„Oh mein Lied, wie schwer kommst du mir von den Lippen! Und wieviel doch müßte ich singen, Grauen! Grauen, wie ich es lebe, Grauen, wie ich es sterbe, Grauen“

Sonntag, 16. September
Der Innenminister, Heeresgeneral Bonilla, spricht in den Abendnachrichten des Fernsehkanals 13 (Katholische Universität) von über 4000 Verhaftungen allein in Santiago. Die Junta benennt Extremisten und Ausländer als ihre Hauptgegner. Seit dem Staatsstreich permanente Aufrufe zur Ausländerverfolgung. (Z. B. das am 15. September durch Hubschrauber über Santiago abgeworfene Flugblatt, abgedruckt im Mercurio vom 16.9., Seite 17.) Neben Schürung von Ausländerhaß auch Antisemitismus: überproportionaler Anteil jüdischer Namen in der offiziellen Verfolgungsliste. Die Woche zuvor forderte ein Artikel im christdemokratischen Parteiblatt La Prensa unter dem Titel "jüdischer Kommunismus in Chile" dazu auf, "am Tag der Schlußbilanz ... die Nachnamen, die auf vic, vich, lemy, bon enden, und 50 weitere zu fassen. Dies wird das Zähneknirschen sein, das wir in der Bibel lesen". (Samstag, 25. August 1973.) Zwei Tage vor dem Staatsstreich war in hohen Regierungskreisen bekannt, daß Washington für den Fall eines Putsches außergewöhnlich hohe Kreditzusagen gemacht habe. Man spricht von Milliardenbeträgen. Einige Tage vor dem Staatsstreich begann die "operacion Unitas", Flottenmanöver zwischen den USA und Chile; am Tag des Staatsstreiches lagen nordamerikanische U-Boote im Hafen von Valparaiso.

Bücherverbrennungen wie im Dritten Reich - wie sich die Bilder gleichen. Überall in den Straßen Santiagos übergab die Armee Bücher und Schriften, die den Putschisten nicht genehm waren, den Flammen. Die Soldaten "erbeuteten" das Material meist bei Hausdurchsuchungen in Wohnungen der Allende-Anhänger.

1973-1974
Die Militärjunta übernimmt das Kommando über das Land sowie die parlamentarische und die verfassungsgemäße Macht. Die Ideologie, von der der Putsch geleitet ist, ist die sogenannte »Doktrin der nationalen Sicherheit«. Die Versuche des bewaffneten Widerstands werden schnell niedergeschlagen. Während der ersten Tage des Militärregimes durchlaufen Tausende von Menschen Gefangenenlager wie das Nationalstadion. Die MIR und die Sozialistische Partei stehen im Mittelpunkt der Repression. Internationale Organisationen decken die Verhaftung und das spätere Verschwinden von 2.500 Personen auf. Hinzu kommen die vom Regime zugegebenen zahlreichen Toten aufgrund der Anwendung des internen Kriegszustandes. Die Katholische Kirche gründet das »Komitee für den Frieden in Chile«, um den Opfern von Menschenrechtsverletzungen und ihren Familien zu helfen. Im September werden in Buenos Aires General Prats und seine Ehefrau auf Anordnung der DINA (Geheimpolizei) und unter dem Kommando von Oberst Manuel Contreras ermordet. Im Dezember ernennt sich Pinochet selbst zum Präsidenten der Nation. Ungefähr 150.000 Chilenen müssen aus politischen Gründen das Land verlassen.

1980
In einem Referendum ohne die geringsten Kontrollmöglichkeiten durch die Opposition wird die Verfassung von 1980 angenommen; abgesehen von einigen Veränderungen ist sie noch heute in Kraft.

1988
Gemäß der Verfassung von 1980 muß ein Plebiszit darüber entscheiden, ob Pinochet für weitere neun Jahre im Amt bleibt oder nicht. Siegt das NEIN, so hat Pinochet allgemeine Wahlen anzusetzen. Der Übergang zur Demokratie beginnt.

1989
Patricio Aylwin Azócar, Präsidentschaftskandidat einer Koalition von Christdemokraten, Sozialisten und Unabhängigen, geht aus den Wahlen von 1989 als Sieger hervor.

1990-1991
Am 11. März wird Aylwin zum Präsidenten der Republik ernannt, Pinochet bleibt Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Die Nationale Kommission für Wahrheit und Versöhnung, die den »Rettig-Bericht« über Menschenrechtsverletzungen während der Militärdiktatur erstellt, wird gegründet. Am 4. September 1990 erhält Salvador Allende sein zweites Begräbnis.

1994-1998
Am 11. März 1994 übernimmt der zweite demokratisch gewählte Präsident, Eduardo Frei Ruiz-Tagle, sein Amt.

 

Grafik von Klaus Staeck 1973

Die zerstörte Moneda (Foto: dpa)


Allende mit seinen Leibwächter im angegriffenen Präsidentenpalast

 

 

 

Víctor Jara

 

 

Foto: dpa