Der Schatten der Nazis über Chile

Alte Freundschaft

Von Víctor Farías am 19. Juli 2001

Daß Nationalsozialisten nach 1945 gastliche Aufnahme in Südamerika fanden, ist bekannt. Die jetzt erfolgte Freigabe historischer Akten enthüllt jedoch eine schon vorher enge Zusammenarbeit einiger Berufsgruppen in Chile, speziell der Ärzte,
Militärs und Juristen, mit dem nationalsozialistischen Regime. Sogar in der "Frente Popular" hatte der Nationalsozialismus seine Anhänger. Die unangenehmste Überraschung: wie Salvador Allende (Foto, mit Augusto Pinochet) noch 1963 die Auslieferung des SS-Standartenführers Walther Rauff verhinderte.

 

Der Nationalsozialismus ist ein bemerkenswerter historischer Katalysator. Die objektive Rekonstruktion der Beziehungsformen, die mit ihm bestehen, ergibt stets fundamentale Besonderheiten von Zeiträumen, Ländern, Institutionen, wissenschaftlichen Errungenschaften und der Kultur sowie der Biographien von Menschen. Während meiner langen Forschungsjahre, die die Verbindungen der deutschen Philosophie mit dem Nationalsozialismus zum Gegenstand hatten, mehrten sich, beinahe zufällig, aber mit nicht zu übersehender Häufigkeit, Hinweise auf Personen, die Verbindungen zu Institutionen meines Landes Chile mit dem Nazi-Faschismus hatten. Als große Mengen von Dokumenten zugänglich wurden, ergab sich ein signifikantes Bild dieser Tatsachen, wurde ich mir der allgemeinen, ja übergreifenden Bedeutung dieses Sachverhalts bewußt. Vor allem aber deshalb, weil die Zeit verging und sich später ein Wirrwarr historischer Prozesse extremster und gegensätzlicher Optionen ergeben wird, haben sich die chilenischen Probleme zu einem sehr signifikantes Objekt für die historiographische und philosophische Reflexion mit universellen Projektionen gewandelt. Seine jüngste Vergangenheit und Gegenwart zeigen uns somit ein überraschtes, ja beinahe bestürztes Land bezüglich seines eigenen Wirkungsvermögens. So wie es immer in verschiedenen historischen Epochen geschehen ist, wurde auch Chile zerstört und wieder aufgebaut, zuletzt allerdings verbunden mit einer außerordentlichen materiellen Entwicklung.

Gerade weil seine Geschichte es in ein wichtiges Land umgewandelt hat, stellt sich die dringende Aufgabe, minutiös und jenseits ideologischer Vereinfachung die historischen Vorläufer, die seine Entwicklung möglich gemacht haben, zu enthüllen. Diese Aufgabe schließt die Bewertung aller Verhaltensweisen gegenüber dem Nationalsozialismus ein, die die chilenischen Institutionen eingenommen haben, und zwar in den verschiedenen Phasen der Entwicklung beider Phänomene. Die aufgefundenen Dokumente begannen fast von alleine ein hermeneutisches Gebäude zu gestalten, das den Forscher von Überraschung zu Überraschung führt, um schließlich zu einem unvorhergesehenen Ende zu kommen. Die Dokumente beweisen zum Beispiel, daß zwischen 1934 und 1940 deutsche Wissenschaftler angewiesen wurden, die deutschen Kolonie in Chile, die bedeutendste im Bereich "rassischer Kohäsion" in Lateinamerika und die militanteste der NSDAP, auf die genetische und politische Gefahr hinzuweisen, die die Vermischung mit einer Bastardbevölkerung bedeuten würde. Professor Eugen Fischer vom Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin (Mentor und Chef von Verschuer, Lenz und Mengele u.v.a.) entsandte Dr. Johann Schäuble nach Chile, umd die rassischen Experimente im Rahmen der "Bastardforschung" umzusetzen. Für diese Aufgabe erhielt er die Unterstützung chilenischer Universitäten und der Ordensgesellschaften der Jesuiten, Salesianer und der Padres Franceses ("Sagrados Corazones"), die ihm ausreichend "Menschenmaterial" zur Verfügung stellten: Hunderte von Schulkindern aus Armenschulen und Waisenkinder aus der Provinz Concepción. Die Entdeckung der Akten des Ibero-Amerikanischen-Instituts in Berlin, des eigentlichen Koordinationszentrums der nationalsozialistischen Infiltration in Lateinamerika, ergeben andererseits ein völlig neues Bild von sehr signifikativen Zusammenhängen.

Dies zeigt sich vor allem im enormen und erfolgreichen Aufwand bei der Infiltration zweier grundlegender Institutionen der chilenischen Gesellschaft: die Ärztekammer mittels der Asociación Medica Germano-Iberoamericana und der Streitkräfte.

Fast die gesamte Elite der chilenischen Ärzteschaft durchlief zwischen 1936 und 1943 deutsche medizinische Ausbildungs- und Forschungsstätten. In diesen Einrichtungen erhielten sie auch eine ganz besonders gebündelte nationalsozialistische Indoktrination. Dies geschah exakt in der Zeit, als nicht nur Forschungsstätten und Kliniken nazifiziert sowie nichtarische medizinische Spezialisten, Studenien und medizinischen Personal vertrieben oder verhaftet wurden, sondern auch durch Euthanasie die Vernichtung "unwerten Lebens" massiv vorangetrieben wurde.

In diesem Zusammenhang überrascht es nicht, daß nicht nur chilenische Ärzte, die in Zusammenarbeit mit der Landesgruppe der NSDAP Chile in Konzentrationslagern gearbeitet und gelernt haben, sondern daß sogar andere den Versuch unternahmen, eine "Legión medica chilena" zu gründen, um in den 40er Jahren die Arbeit der deutschen Kollegen an der Front zu unterstützen.

Von großer Bedeutung ist sicherlich der Besuch von Repräsentanten des Appellationsgerichts beim Volksgerichtshof und die massive Unterstützung, die durch das Außenministerium, Botschafter, Konsuln, pro-nationalsozialistisches und antisemitisches Botschaftspersonal und Militärs koordiniert wurde. Dadurch erreichten sie, daß Chile im Jahre 1940 seine Grenzen definitiv für tausende jüdischer Familien geschlossen hat, die den Vernichtungslagern entfliehen wollten. Eine neue Erkenntnis ist ganz sicherlich auch, daß Chile ab 1937 und während des ganzen spanischen Bürgerkrieges offiziell die Interessen und die Vertretung Nazideutschlands in Madrid wahrgenommen hat; dafür erhielt sein gesamtes ziviles und militärisches Personal aus den Händen Hitlers die höchsten Auszeichnungen. Der chilenische Botschafter in Berlin nutzte sein Amt, um Piloten der Legion Condor, die Guernica vernichtet hatte, und mehr als hundert deutsche Soldaten, die Franco unterstützt hatten, vor der Hinrichtung zu bewahren. Ein herausragendes Beispiel für den Extremismus des chilenischen diplomatischen Corps ist vielleicht der Versuch zweier pro-nationalsozialistischer chilenischer Konsuln, den chilenischen Konsul in Dresden an die Gestapo auszuliefern, weil er "in Wirklichkeit ein Jude" war. Die Entdeckung umfangreichen Aktenmaterials über Spionage ist ebenfalls sehr wichtig. Mehr noch aber wird die Tatsache dadurch bestätigt, daß die detaillierten Informationen der Regierung der Vereinigten Staaten an den chilenischen Außenminister von diesem dem Parlament und seinen Ausschüssen vorenthalten wurden.

Aber nicht nur in den konservativen Regierungen, sondern auch in der Regierung der Frente Popular haben die Nazis unerwartete Verbündete gefunden. So zum Beispiel beweisen die Akten, daß mindestens zwei sozialistische Minister (auch Marmaduke Grove, der Gründer dieser Partei) und verschiedene andere Minister, im Zusammenhang mit Waffeneinkäufen polnischer Beutewaffen von der Wehrmacht standen. Es ist sehr wichtig zu erwähnen, daß seit jenen Jahren (1939/40) Nazi-Deutschland die USA und England übertroffen hatte als Handelspartner Chiles, was eine beträchtliche Ausgangsposition für die Durchdringung Amerika war. Die Verbindungen der Nazis mit den Streitkräften waren ebenfalls sehr überraschend: Die erste funktionierende Nazi-Partei in Chile wurde 1932 noch vor der "Machtergreifung" in Deutschland von einem Divisionsgeneral des chilenischen Heeres gegründet. Sie wurde vom "Völkischen Beobachter" und seinem Herausgeber Adolf Hitler anerkannt. Diese Partei war jedoch nur die Overtüre eines umfangreichen Programms für einen militärischen Austausch und zahlreiche Geheimaktionen, sowohl unterstützt von der damaligen chilenischen Regierung, als auch der Alliierten. Der General Wilhelm Faupel organisierte von seinem Ibero-Amerikanischen Institut aus die Infiltration der Streitkräfte mittels einer militärwissenschaftlichen Zeitschrift von hohem Niveau in spanischer Sprache: "Ejército-Marina-Aviación". Sie wurde in allen Kasernen von den entsprechenden Offizieren und in Verbindung mit der NSDAP-Landesgruppe in Chile verteilt. Einer der Lehrenden, die das militärwissenschaftliche Material für Vorträge in der Kriegsakademie einsetzten, war der damals noch junge Offizier Augusto Pinochet. Aber nicht nur Institutionen, sondem auch hochangesehene Persönlichkeiten des kulturellen Lebens erscheinen in den Akten in einem neuen Licht. Das ist zum Beispiel der Fall des bedeutenden und berühmten Pianisten Claudio Arrau, der eine wichtige Rolle bei der Vermittlung der Kulturpolitik Goebbels' spielte. Von noch größerem Gewicht waren seine zahlreichen Konzerte für die Arbeitsfront bis 1942 und sein Treueschwur auf den Führer, den er leistete, um seine Position als Professor des Konservatoriums in Berlin zu behalten.

Die dokumentierte Geschichte der Beziehungen Chiles zum "Dritten Reich" ist voller Überraschungen. Schließlich lieferte sie aber auch Anlaß zur Betroffenheit. Während einer langen Unterredung mit Simon Wiesenthal informierte er mich über seine Bemühungen, 1972 Salvador Allende zu überzeugen, daß er die Auslieferung des SS-Standartenführers Walther Rauff, der opulent und ungestraft in Chile lebte, voranzutreiben. Rauff war verantwortlich für die direkte Ermordung von mindestens 100.000 Menschen, darunter Frauen und Kinder. Ich fand mittlerweile die gesamte Dokumentation, die Wiesenthal Allende zukommen ließ. Wiesenthal wies die negative Entscheidung des Corte Suprema von 1963 bezüglich der Wiederaufnahme des von Deutschland geforderten Prozesses zurück, da dies weder dem Recht noch den von Chile schon 1948 ratifizierten Verträgen entsprach. Das bedeutet, "daß in Fällen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit die internationale Rechtsprechung der nationalen übergeordnet ist und keiner Verjährung unterliegt". Allende antwortete mit einem langen Brief, der in den chilenischen Archiven verschwunden ist, der aber in Wien zusammen mit der Anfrage Wiesenthals erhalten ist. In diesem Brief rechtfertigt Allende nicht nur die Entscheidung des chilenischen Corte Suprema, sondem weigert sich auch, in irgendeiner Form dem Recht Genüge zu tun. Wiesenthal benutzte also auch die gleiche Argumentation, die im Falle Pinochets zwecks seiner Verhaftung und Verurteilung außerhalb Chiles angewandt wurde - und Allende die der Anhänger des Diktators.

Die Beziehungen mit dem Dritten Reich werfen auch heute noch ihre langen Schatten. Auch für Chile ist die Wahrheit der Grundpfeiler der Demokratie.

Der Autor ist der Verfasser des Buches "Los nazis en Chile", Seix-Barral , Barcelona 2000.