Chile im Winter

Die bleiernde Last der nicht bewältigten Vergangenheit

Von Jürgen Schübeline

 

Ein bisschen Wahrheit – und (k)ein bisschen Gerechtigkeit? Eine absurde, gespenstische Szene: Die Witwe Salvador Allendes, Hortensia Bussi und seine Tochter Isabel müssen – von Schirmen und Bodyguards geschützt – unter einem Regen von faulen Eiern und Peso-Münzen, begleitet von Buh-Rufen und gellenden Pfiffen, in den Regierungspalast Moneda geführt werden. Wenige Minuten zuvor hatten sie zusammen mit dem seit März amtierenden Präsidenten Ricardo Lagos und dem Bürgermeister von Santiago, Jaime Ravinet, die sechs Meter hohe Bronzestatue des am 11. September 1973, während des Militärputsches in Chile, getöteten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende enthüllt.

Gedacht und geplant war die symbolträchtige Rückkehr Allendes auf die Plaza de la Constitución, wenige Meter von der Moneda entfernt, als Versöhnungsgeste gegenüber der Generation der Unterstützer und Verteidiger der Unidad Popular und ihrer Vision von einem demokratischen, lateinamerikanischen Sozialismus mit menschlichem Gesicht. Allende – zumindest als Statue – im Blickkontakt mit den Denkmälern seiner beiden Vorgänger Jorge Alessandri (1958-1964) und Eduardo Frei (1964-1970), sollte aber auch – so der Wille der Parlamentsmehrheit, die bereits vor sechs Jahren die Errichtung des Standbildes beschlossen hatte –, einen Beitrag zur Aussöhnung zwischen den Opfern Pinochets und der chilenischen Gesellschaft leisten.

Doch der Versuch geriet zum Fiasko. Der sozialdemokratische Präsident Ricardo Lagos und seine zur Denkmals-Enthüllung geladenen Gäste waren am 26. Juni, dem Tag, an dem Allende 93 Jahre alt geworden wäre, nur unter größten Mühen – und immer wieder unterbrochen von »Verräter, Verräter«-Rufen – in der Lage, ihre Reden zu halten. Carlos Altamirano, seinerzeit einer der wichtigsten Ideologen der Unidad Popular, Chiles Verteidigungsminister Mario Fernández und der sozialistische Senator Carlos Ominami mussten vor dem Hauptportal des Präsidentenpalastes ungeschützt einen Hagel aus Münzen und Eiern über sich ergehen lassen.

Besonders schmerzhaft für die seit dem 11. März amtierende, neue chilenische Regierung unter dem Sozialdemokraten Lagos war, dass sie hier nicht etwa die Verachtung der Anhänger Pinochets und der politischen Gegner aus der UP-Zeit zu spüren bekam, sondern die aufgestaute Wut und Frustration von Opfern des Militärregimes aus dem Lager der Kommunistischen Partei Chiles (PC) und anderer Gruppen der außerparlamentarischen Linken, deren Vertreter von den Zeremonienmeistern der Moneda nicht unter das Zeltdach mit den Ehrengästen geladen worden waren.

Wenige Tage zuvor, am 21. Juni, hatten sich 120 Kilometer von Santiago entfernt, im chilenischen Parlament mit Sitz in Valparaiso, ähnlich emplematische – und nicht weniger beschämende – Szenen abgespielt. Mit einem massiven Polizeiaufgebot und den gewohnt rüden Handgreiflichkeiten der Carabineros (kasernierte chilenische Polizei) hatte der christdemokratische Senatspräsident, Andrés Zaldivar, die Frauen aus der Agrupación de Familiares de Detenidos-Desparecidos, (dem Verband der Familienangehörigen von Verhafteten-Verschwundenen), von der Besuchertribüne des Parlamentes entfernen lassen.

Die Mütter, Schwestern und Ehefrauen der Pinochet-Opfer unter der Führung ihrer beiden Vorsitzenden Viviana Díaz und Mireya García versuchten zuvor verzweifelt, durch ihre Präsenz und ihren Protest die Verabschiedung des in weniger als 34 Stunden durch sämtliche Instanzen der beiden Parlamentskammern gepeitschten Gesetzes zu verhindern, mit dem die strikte Wahrung der Anonymität all derjenigen Militärs, Polizeiangehörigen und Geheimdienstmitgliedern, die eventuell bereit sind, Informationen über den Verbleib der sterblichen Überreste der unter Pinochet verschwundenen Regimegegner beizusteuern, abgesichert werden soll.

Zehn Jahre nach dem formalen Ende des Militärregimes in Chile und dem Beginn der sogenannten Transición a la Democrácia (des Übergangs zur Demokratie) erhofft sich die Mitte-Links-Koalition unter Ricardo Lagos auf diese Weise, der traumatischsten Altlast, die Pinochet hinterlassen hat, dem ungeklärten Schicksal der Verhafteten-Verschwundenen, etwas von ihrer bleiernen, lähmenden Schwere zu nehmen. An keinem Thema lassen sich in diesen zehn Jahren die Abgründe und Gräben, die sich quer durch die chilenische Nachdiktaturs-Gesellschaft ziehen, so deutlich erkennen wie an der Menschenrechtsfrage.

Im Dezember 1989 hatte der Christdemokrat Patricio Aylwin die ersten freien Präsidentschaftswahlen nach 19 Jahren mit dem Versprechen gewonnen, den Familien der Verschwundenen zumindest die sterblichen Überreste ihrer Angehörigen zurück zu geben und die Wahrheit über die Verbrechen des staatsterroristischen Regimes der Generale aufzuklären. Aylwin scheitere an der erbarmungslosen, undurchlässigen Mauer des Schweigens, mit der der Militärapparat die Reihen um die Mörder in Uniform geschlossen hielt.

Personifizierter Garant für den Bestand dieser Mauer war bis 1998 Augusto Pinochet, der für sich acht Jahre über das Ende seiner Präsidentschaft hinaus den Posten als Oberkommandierender des Heeres gesichert hatte. Die Mischung aus Personenkult, bedingungsloser Loyalität und einer Militärdoktrin, nach der der Mord an Zivilisten, Frauen, Kindern, Alten – nach dem Motto »Wo gehobelt wird, da fallen Späne« – eben ein unvermeidbarer Bestandteil der heiligen Mission gewesen ist, das Vaterland vor den Abgründen des Marxismus und der Versklavung durch die damalige Sowjetunion und ihren Vasallen Kuba zu bewahren, sorgte dafür, dass es von Seiten der Täter auch ein Vierteljahrhundert nach dem Massenmord nicht einmal die Andeutung einer Geste von Mitgefühl gab.

Aylwins Nachfolger, der glücklose, immer hölzern und sozial völlig unsensibel wirkende Eduardo Frei junior, hatte es ohnedies nie gewagt, Pinochet und den poderes facticos, also den tatsächlich Mächtigen im Land, die Stirn zu bieten. Die eher symbolischen Erfolge bei der Aufklärung und Ahndung von Menschenrechtsverbrechen, die in die Zeit von Freis Regierungsperiode (1994 – 2000) fielen, waren ausschließlich das Ergebnis jahrelanger Arbeit der chilenischen Menschenrechtsorganisationen und ihrer Anwälte – sowie eines ganz allmählichen Generationenwechsels in den Gerichten, wo die fossile Garde der Pinochet-Komplizen, Rechtsbeuger und Opportunisten nicht verhindern konnte, dass junge Richter mit einem dem Rechtsstaat verpflichteten Berufsethos begannen, das Dogma von der Straflosigkeit – also die wichtigste aller Bedingungen, die die Militärs ihren zivilen Nachfolgern vor dem Beginn der transición aufgezwungen hatten, in Frage zu stellen.

1995 dann die erste spektakuläre Verurteilung: Der ehemalige Chef des berüchtigten Geheimdienstes DINA, General Contreras und sein Stellvertreter Espinoza, wurden wegen des Mordes an Allendes Außenminister Orlando Letelier und seiner Mitarbeiterin Ronnie Moffit nach einem unendlich mühsamen juristischen Tauziehen, das letztinstanzlich vom Obersten Gerichtshof entschieden wurde, zu acht, bzw. sieben Jahren Haft verurteilt.

Doch bei der Suche nach den Verschwundenen und der Aufklärung der fast 3500 Menschenrechtsverbrechen mit Todesfolge, die in Chile unter Pinochet begangen wurden und heute aktenkundig sind, kamen weder die Gerichte, geschweige denn die Regierung Frei mit ihrer Samthandschuhpolitik gegenüber dem uniformierten Machtapparat und seinen Verbündeten weiter.

Jedes Jahr im September, dem mes de la patria (Monat des Vaterlandes) wird der Jahrestag des Putsches von 1973 von den Angehörigen der Opfer und dem politischen Spektrum von Mitte-Links bis ganz Links, als Erinnerung an die größte Tragödie, die die Republik in ihrer 180jährigen Geschichte durchlitten hat, begangen, während seine Protagonisten, ob in Uniform oder Nadelstreifen, unbelehrbar sich und ihre Heldentat der Vaterlandsrettung zelebrieren lassen.

Auf den Straßen Santiagos, rund um den Zentralfriedhof im Stadtteil Recoleta und im Ring aus Armenvierteln, der die Hauptstadt umschließt, spielen sich Jahr für Jahr im September Bürgerkriegsszenen ab, die Belfast und Londonderry in den furchtbarsten Zeiten ebenbürtig sind. Jahr um Jahr kommen Menschen bei diesen Zusammenstößen zu Tode, Jahr um Jahr bedarf es Wochen, Monate, bis die Spuren der Straßenschlachten wieder aus dem Stadtbild getilgt wurden.

Der geniale Einfall der Regierung Frei und der Koalitionsparteien der concertación, einfach den gesetzlichen Feiertag des 11. Septembers – also des Putschjahrestages – abzuschaffen, in der Hoffnung, dann würde sich schon irgendwie der ersehnte Frieden im Land einstellen, erwies sich als frommer Wunsch.

Dennoch konnte sich Eduardo Frei vor diesem Hintergrund im August 1999 – elf Monate nach der Festnahme Pinochets durch die britische Polizei in London – nur zögerlich dazu durchringen, einer Initiative seines Verteidigungsministers Edmundo Pérez Yoma zuzustimmen, Generale der vier Waffengattungen, Menschenrechtsanwälte, die Katholische Kirche und die Regierung an einen Tisch zu bitten, um einen in Chile zuvor undenkbaren Dialogprozess einzuleiten. Frei fürchtete nach all den juristischen und diplomatischen Blamagen, die seine Regierung bei den bis dato fehlgeschlagenen Rückholaktionen Pinochets aus seiner Londoner Luxushaft eingefahren hatte, einen erneuten Flop – und weiteren Prestigeverlust für sich selbst.

Trotzdem lies er Pérez Yoma schließlich gewähren. Der brachte seine mesa de diálogo zusammen und machte schon bei der Eröffnungssitzung das Ziel der Operation deutlich: »Dieser Dialogprozess«, so Chiles Verteidigungsminister am 21. August 1999, »soll Dynamiken für eine Mithilfe bei der Wahrheitsfindung, der Suche nach Gerechtigkeit, der Wiedergutmachung und des Verzeihens freisetzen.« Das »kulturelle Gewebe« der chilenischen Gesellschaft, so Pérez Yoma in seiner Analyse, »hat Schaden genommen – und es bedarf eines Beweises von Kultur und Zivilisation, das Zusammenleben in unserem Land wieder möglich zu machen.« Dass die Grenzen für diese Kulturleistung ziemlich eng gesetzt waren, machte vor allem der Erzbischof von Santiago, Francisco Javier Errazuriz, immer wieder deutlich. Er sprach im Blick auf die Beratungen der mesa von »der Anwendung der Gerechtigkeit im Rahmen des Möglichen« oder auch davon, »dass zuviel Gerechtigkeit am Ende ungerecht ist.«

Ein bisschen Gerechtigkeit also – und ein bisschen Wahrheit: Für die mesa de diálogo bedeutet das, sich auf das Minimalziel zu einigen, alle verfügbaren Informationen über den Verbleib der Verhafteten-Verschwundenen und ihrer Todesumstände zusammen zu tragen. Die Oberkommandierenden von Heer, Marine, Luftwaffe und Polizei verpflichteten sich im Juni 2000 schriftlich, in den eigenen Reihen und denen ihrer Ruheständler nachzuforschen, wer denn eventuell etwas an Information zu dieser Frage besteuern könnte? Geschützt werden alle, deren Erinnerung unter den veränderten Umständen plötzlich zurückkehren sollte, von dem bereits erwähnten Gesetz zur »Wahrung des Berufsgeheimnisses«, das die Regierung Lagos am 21. Juni durch das Parlament peitschte.

Der von der mesa vereinbarte Mechanismus zur Vergangenheitsbewältigung sieht vor, dass jede Waffengattung für sich die entsprechenden Informationen sammelt, bewertet und bearbeitet – und schließlich dem Staatspräsidenten übergibt, der – quasi als eine Art Notar fungierend – das gesamte Paket mit den zu Tage geförderten Rechercheergebnisse der Justiz aushändigen wird, die dann die entsprechenden Ausgrabungen und anthropoforensischen Untersuchungen anordnet.

Die Regierung mit den Parteien der concertación, aber auch die rechte Opposition im Parlament sowie nicht zuletzt die Militärs selbst versprechen sich von diesem Procedere, der Lösung des Verschwundenenproblems zumindest näher zu kommen. Politisch geht es allen Beteiligten darum, den Prozess der transición, des Übergangs in die Demokratie, für beendet erklären und sich definitiv in den Kreis der zivilisierten Nationen dieser Erde – ohne Leichen im Keller – zurückmelden zu können.

Aus der Sicht der Angehörigen der Opfer ist der Preis, der für dieses hehre Ziel bezahlt werden muss, zu hoch. Sie sehen in dem acuerdo der mesa de diálogo das Ende ihrer über ein Vierteljahrhundert bewahrten Hoffnung, dass den Mördern in Uniform am Ende doch noch Gerechtigkeit widerfahre, für ein Linsengericht verschachert. Denn das plötzliche Auftauchen von Knochenfragmenten aus Massengräbern macht das einzige juristische Argument zunichte, mit es dem die Menschenrechtsanwälte verhindert haben, dass die Gerichte massenweise die zum Teil seit 27 Jahren anhängigen Verfahren um das Verschwindenlassen von Pinochetgegnern einstellen konnten: Das Argument, dass hier ein Tatbestand der Entführung vorliege!

Die Autoren der von Pinochet 1978 diktierten Generalamnestie für sich und die Seinen hatten so schlampig gearbeitet, dass sie das Delikt der Entführung in der Auflistung der amnestierten Verbrechen vergasen. Nun ist jedoch auch für Nichtjuristen einsichtig, dass dann, wenn ein Entführungsopfer erschossen aufgefunden wird, der Straftatbestand eines Mordes oder zumindest Totschlags vorliegt. Diese Verbrechen jedoch – sofern sie von Militärs gegen Zivilisten zwischen 1973 und 1978 begangen wurden – sind in Chile amnestiert. Eine Strafverfolgung findet nicht statt. Die Ermittlungsakte kann entsorgt werden.

Noch bitterer jedoch klingt es für die unter dem staatsterroristischen Regime Verfolgten, dass die mesa de diálogo nach neun Monaten ihre Mission besiegelte, ohne dass es von Seiten der Täter auch nur eine einzige Geste der Reue oder ein Eingeständnis von Schuld gegeben hätte. Ganz anders als der Bericht der sogenannten Comisión Rettig, die 1990/91 im Auftrag von Patricio Aylwin die erste systematische Auflistung der Menschenrechtsverbrechen unter Pinochet präsentierte, spricht die mesa de diálogo in ihrem vierseitigen Abschlussdokument nicht mehr davon, dass Salvador Allende und die verfassungsmäßige Regierung Chiles am 11. September 1973 durch einen Militärputsch gestürzt wurden, nicht einmal mehr der von den Generälen so gern benutzte Begriff pronunciamiento militar (frei übersetzt: militärischer Eingriff) taucht auf, statt dessen ist feinsinnig »von den Ereignissen des 11. Septembers« die Rede, »die der Regierungszeit von Präsident Allende ein Ende setzen.« Verursacht wurden diese merkwürdigen Ereignisse laut mesa-Dokument, von einer »Spirale der politischen Gewalt, die in den sechziger Jahren ihren Anfang nahm«.

Und die Menschenrechtsverletzungen unter dem Militärregime werden nicht mehr als Machtmissbrauch eines terroristischen Systems verstanden, sie haben gemäss der Definition der mesa keinerlei systematischen Charakter, bilden nicht mehr Teil einer Herrschaftsstrategie zur Einschüchterung der Gesamtbevölkerung und physischen Eliminierung tatsächlicher oder vermeintlicher politischer Gegner. Das Dokument der Tafelritter identifiziert als die alleinigen Verantwortlichen für begangenen Menschenrechtsverbrechen »einzelne Agenten staatlicher Organisationen«, die – so die Formulierung von Präsident Ricardo Lagos – »in einem Moment der Verwirrung agierten«.

Heer, Marine, Luftwaffe und Polizei sind also nicht mehr als Institutionen in die Aktionen einzelner ihrer verwirrten Agenten involviert – und die politisch und militärisch Verantwortlichen im Pinochet-Staat können beruhigt dem revidierten Urteil der Geschichte entgegensehen.

Nur Pinochet selbst, der 84jährige Diktator im Ruhestand, Senator auf Lebenszeit und Capitan General-ehrenhalber, gehört nicht zu den Nutznießern der edlen Tafelrunde. Die unwiderrufliche Aufhebung seiner parlamentarischen Immunität am 1.August durch einen 14:6-Stimmen-Mehrheitsentscheid des Obersten Gerichtshof Chiles konnten auch seine fanatischsten Anhänger nicht verhindern. Seit seiner triumphalen Rückkehr aus dem Londoner Hausarrest im März sind gegen ihn bislang 154 Strafanzeigen wegen der Anstiftung zum Mord und anderer schwerer Straftaten eingereicht worden. Und der Richter Juan Guzmán Tapia, der wegen des Verdachtes auf Mittäterschaft an 19 von der sogenannten Todeskarawane unter Arellano Stark begangenen »qualifizierten Entführungen« gegen Pinochet ermittelt, erreichte bereits erstinstanzlich am 23. Mai dieses Jahres ein spektakuläres Urteil des Berufungssgerichtes von Santiago, in dem Pinochet die Immunität als Senator aberkannt wurde.

Dass die Corte Suprema, der Oberste Gerichtshof Chiles, jetzt diese Entscheidung mit ihrem – nach handfesten internen Auseinandersetzungen ergangenen – Bescheid Urteil bestätigte, qualifizieren chilenische Menschenrechtsorganisationen mit Recht als historisches Ereignis, das allerdings erst als Konsequenz der Festnahme Pinochets durch die britische Justiz am 16. Oktober 1998 und die Prozessfolge um das spanische Auslieferungsverfahren möglich wurde.

Zum ersten Mal in der Geschichte Chiles stehen jetzt theoretisch die Türen offen, um einen ehemaligen Staatschef wegen Verbrechen, die während seiner Diktatur und unter seiner Verantwortung begangen wurden, vor Gericht zu belangen.

Ob es am Ende jedoch tatsächlich zum Prozess gegen ihn kommt, steht bislang in den Sternen. Pinochets Anwälte sind bereits bestens auf notfalls jahrelang zu betreibende Verfahrensscharmützel und Verzögerungsfinten vorbereitet. Unter anderem wollen sie erreichen, dass der Alte mit einem medizinischen Gutachten – wie schon in London – nun auch in Chile für verhandlungsunfähig erklärt wird. Ob sich die Regierung der Concertación unter Ricardo Lagos angesichts des massiven Drucks aus den Streitkräften – und der offen ausgesprochenen Drohung verschiedener Heeresgeneräle, »all unsere Macht für den General in die Waagschale zu werfen« – doch noch auf ein Geschacher hinter den Kulissen einlässt, um dem 84Jährigen den Prozess (bei dem er übrigens nach chilenischem Recht nicht persönlich anwesend sein müsste) zu ersparen, ist unklar.

Und sollten tatsächlich am Ende – wider Erwarten – doch alle juristischen Fallstricke reißen, bleibt den Pinochet-Getreuen – aber auch dem Regierungslager – die begründete Hoffnung, dass sich das Problem in absehbarer eZeit durch eine pompöses Staatsbegräbnis von selbst erledigt.